Hilfsmittel für Lernen und Lehren in heterogenen Lerngruppen
(Reckahn, Januar 2025, Ute Geiling, Anne Piezunka, Annedore Prengel)
Eine kurze Einführung in 12 Punkten:
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1. Was will ReMi?
Im ReMi-Projekt werden Hilfsmittel für Lernen und Lehren in heterogenen Lerngruppen entwickelt und im Internet frei zugänglich angeboten – im Mittelpunkt stehen fachdidaktische Stufenmodelle. ReMi soll zur Verbreitung inklusiver Pädagogik in der Fläche des Bildungswesens beitragen.
ReMi beruht auf der Einsicht: Jedes Kind ist auf seiner Stufe kompetent. Die Hilfsmittel dienen der inneren Differenzierung des Unterrichts. Sie verhelfen den Angehörigen verschiedener pädagogischer Berufe zu gemeinsamen fachdidaktischen Grundlagen. ReMi soll dazu beitragen, dass sie im alltäglichen Unterricht und im Ganztag individuell erreichte Lernstände erkennen, benennen und jeweils dazu passende Lernbausteine anbieten können. Grundlegend sind Erkenntnisse zum „Assessment for Learning“ sowie zum respektvollen sozialen Lernen in der inklusiven Klassengemeinschaft.
2. An wen richtet sich ReMi?
Das ReMi-Projekt richtet sich an alle Lehrkräfte und pädagogischen Fachkräfte, an Quer- und Seiteneinsteigende, an fachfremd Unterrichtende sowie an multiprofessionelle Teams. ReMi ist für alle Lehrenden besonders hilfreich, die in ihrem Unterricht Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Lernzugängen gerecht werden wollen. ReMi kann in allen Schulformen und Schulstufen genutzt werden.
Die ReMi-Materialien beschreiben kleinteilig alle Lernstufen bis zum Mittleren Bildungsabschluss. Lernende mit verschiedensten Voraussetzungen – von ausgeprägten Beeinträchtigungen über durchschnittliche bis hin zu besonderen Begabungen in unterschiedlichen Lernbereichen – gehören zu inklusiven Schulen. Für die Planung des gemeinsamen Unterrichts in inklusiven Klassen sind die REMI-Hilfsmittel besonders geeignet.
3. Auf welche Schulfächer, Lernstufen und Lernzugänge bezieht sich ReMi?
REMI bezieht sich auf 14 Schulfächer bzw. Lernbeeiche: Deutsch, Mathematik, Englisch, Soziales Lernen/Politische Bildung, Ethik, Geografie, Geschichte, Physik, Chemie, Biologie, Kunst, Musik, Sport/Bewegung, Arbeitslehre/IT.
In jedem Fach werden kleinteilig ausdifferenzierte Stufen den 4 gröberen Lernzugängen („beps“), die in heterogenen Lerngruppen vorkommen, zugeordnet:
- Basale Lernzugänge (früheste Stufen, z.B. Kinder mit komplexen kognitiv ausgeprägten Beeinträchtigungen)
- Elementare Lernzugänge (bezogen auf elementare frühe Lernstufen in inklusiven Lerngruppen)
- Primare Lernzugänge (bezogen auf die primaren Lernstufen in inklusiven Lerngruppen)
- Sekundare Lernzugänge (bezogen auf die sekundaren Lernstufen bis zum Mittleren Bildungsabschluss in inklusiven Lerngruppen)
Die kleinteilig aufeinander aufbauenden Stufenmodelle und die vier grob aufeinander aufbauenden Beschreibungen von Lernzugängen ermöglichen überblicksartig Orientierung. Sie sind lineare Modelle, die kindliches Lernen nicht eins-zu-eins abbilden können, weil sich beim Lernen immer auch schnelle Sprünge, langsames Verweilen, Umwege, Sackgassen, neue Bahnungen und Rückschritte ereignen. Lernprozesse sind unvorhersehbar. Ein Stufenmodell kann wie eine Art Landkarte von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften genutzt werden, weil es erfahrungsbasiert wichtige Etappen des Lernens in Schulfächern schematisch abbildet und so zur Orientierung beiträgt. Individuell bestmögliche Schulabschlüsse werden angestrebt – ohne prognostische Festlegungen zu treffen.
4. Welche Hilfsmittel bietet ReMi?
Die REMI-Webseite bietet einführende allgemeindidaktische Texte, fachdidaktische Stufenmodelle und weitere Materialien für 14 verschiedene Schulfächer/Lernbereiche (Deutsch, Mathematik, Englisch, Soziales Lernen/Politische Bildung, Ethik, Geografie, Geschichte, Physik, Chemie, Biologie, Kunst, Musik, Sport/Bewegung, Arbeitslehre.
Für jede der 14 Fachdidaktiken werden 7 verschiedene Dokumente angeboten:
- Einleitung zum Fach
- Diagnostisch-didaktische Stufenmodelle für die 14 genannten Schulfächer (siehe oben)
- Hinweise zum Lernen anhand von Themen und Interessen der Kinder und Jugendlichen
- Hinweise für das Lernen am gemeinsamen Gegenstand anhand exemplarischer Themen
- Eine Auswahl an fachdidaktischen Führerscheinen für die Hand der Kinder
- Informationen zu anderen (curricularen) Stufenmodellen
- Für jede Fachdidaktik werden ausführliche Literaturangaben ergänzt.
5. Wie sind die Stufenmodelle für 14 Fachdidaktiken aufgebaut?
Struktur der Stufenmodelle: In nebeneinander angeordneten Zeilen werden erreichte Lernstände in zwei Sprachen benannt, der Sprache der Lehrenden und der Sprache der Lernenden. Den Stufen werden jeweils passende pädagogische Angebote hinzugefügt, mit denen vorhandene Kompetenzen gefestigt werden können und die nächste Stufe angestrebt werden kann. Die tabellarischen Modelle vermitteln systematisch und zugleich verständlich Wissen über den entwicklungslogischen Kompetenzaufbau in den Schulfächern.
basal | elementar | primär | sekundär | Benennen der Stufe in Erwachsenen-sprache | Benennen der Stufe in Kindersprache „Ich kann …“ | Lernbausteine, pädago-gische Angebote, um die nächste Stufe zu erreichen |
- Farbige Linien ganz links: Die schmalen farbigen Linien markieren die vier Zugänge, die in den heterogenen Lerngruppen der inklusiven Schulpädagogik relevant sind, den basalen, den elementaren, den primaren und den sekundaren Zugang, zusammenfassend „beps“ genannt.
- Spalte „Erwachsenensprache“: In dieser Spalte werden die Stufen als aufeinander aufbauende wesentliche, in der Regel unverzichtbare Lernschritte in Fächern und Lernbereichen in knapper Form in gut verständlicher „Erwachsenensprache“ formuliert.
- Spalte „Kindersprache“, auch „Jugendsprache“: In der mittleren Spalte werden die zu erreichenden Kompetenzen in Form von „Ich-kann-Formulierungen“ gefasst. Diese möglichst einfachen und fachgerechten Formulierungen unterstützen die Lehrkräfte dabei, Mitteilungen und Produkte der Lernenden zu verstehen, fachliche Inhalte verständlich und zugleich fachlich angemessen zu erklären und bei Rückmeldungen zum Lernen das Erreichte klar und zugänglich zu benennen. Im Sinne des Formativen Assessment können „Ich-Kann-Formulierungen“ ebenso dem „Selfassessment“ und „Peerassessment“ dienen, um die Kinder zu ermächtigen, ihre Lernziele zu kennen und aktiv anzustreben. Die Stufenformulierungen in Ich-Kann-Formulierungen können Lehrende bei Bedarf nutzen, um selbst Instrumente wie Lernpässe oder Führerscheine für die Hand der Lernenden zu gestalten. Einige Lernpässe bzw. Führerscheine für Kinder und Jugendliche zu ausgewählten Themen werden in den ReMi-Fächern angeboten.
- Spalte „Pädagogische Angebote“: Die zum Lernen von jeder Stufe aus geeigneten Aktivitäten, Lernmaterialien, Lernmedien und Lerngelegenheiten für differenzierende pädagogisch-didaktische Angebote werden benannt und ggf. so verlinkt, dass weiterführende Informationen und Materialien leicht zugänglich werden. Die pädagogischen Angebote eröffnen von jeder Kompetenzstufe aus Einstiege ins adaptive Lernen.
Die Stufenmodelle ermöglichen das anerkennende Benennen von erreichten Kompetenzen aufeinander aufbauender diagnostisch-didaktischer fachbezogener Inhalte. Zu jeder Stufe gehören passende Lernangebote, die dazu dienen, dass Kinder und Jugendliche von ihrer persönlichen Lernausgangslage aus ihre jeweils individuell anstehende, nächste Stufe erreichen. Kontinuierlich und anerkennend sollen die einzelnen Lernenden unterstützt werden, damit sie langfristig zu ihren jeweils individuell bestmöglichen Bildungsabschlüssen
6. Wie ist ReMi nützlich für Formen inklusiver Didaktik?
Die ReMi-Konzeption wird getragen von zwei Säulen der inklusiven Didaktik, die sich auch gegenseitig stützen und stärken. Eine Säule beinhaltet das von Erwachsenen verantwortete individualisierungsfähige „obligatorische“ Kerncurriculum. Dieses inklusive Verständnis des Kerncurriculums zeichnet sich dadurch aus, dass essentielle kulturelle Errungenschaften in differenzierten Formen zugänglich gemacht werden. Indem unverzichtbare pädagogische Angebote der ganzen Bandbreite heterogener Lernausgangslagen entsprechend zugänglich gemacht werden, tragen sie dazu bei, dass allen Lernenden individuell Teilhabe ermöglicht wird. Daraus folgt zum Beispiel, dass sich manche Lernende der Kulturtechnik des Lesens annähern, indem sie Piktogramme erkennen üben, während andere üben lautgetreue Worte oder kleine Geschichten zu entziffern und wieder andere dabei sind Bücher zu erlesen. Eine zweite Säule beinhaltet das fakultative Kindercurriculum, das Kindern und Jugendlichen Freiräume für die Arbeit an eigenen Themen und Interessen eröffnet. Beide Säulen inklusiver Didaktik sind unverzichtbar (Prengel 2022; Prengel 2024).
Inklusiver Unterricht greift auf eine lange Tradition reformpädagogischer Didaktik zurück: Freiarbeit ermöglicht innere Differenzierung in Form von Individualisierung, Partnerarbeit oder Kleingruppenarbeit. Freiarbeit wird verwirklicht durch die vorbereitete Umgebung, in der fächerübergreifende Materialien zum Lernen und Üben für die Kinder und Jugendlichen bereitgestellt werden. Die in den ReMi-Stufenmodellen zu findenden, zu jeder Stufe passenden pädagogischen Angebote dienen dazu, die vorbereitete Umgebung mit den vielfältigen Materialien auszustatten. Mit dem Konzept des Lernbüros wurde eine für die Sekundarstufe angemessene Form der Freiarbeit entwickelt (TOOLKIT Lernbüro o.J.). Freiarbeit und Lernbüroarbeit können mit Hilfe der Stufenmodelle personalisiertes Lernen so zu strukturieren, dass alle Lernenden ihre Ziele kennen und gute Orientierung haben.
Projektarbeit und Unterrichtsepochen sind weitere für Inklusion bedeutsame reformpädagogische Didaktiken. In individuellen und kooperativen Projekten können Kinder und Jugendliche sich mit den von ihnen gewünschten und für sie interessanten Themen auseinandersetzen. Exemplarische Vorschläge dazu werden zusätzlich zu den Stufenmodellen in den Materialien der 14 Fachdidaktiken gemacht. Im Projekt- und Epochenunterricht kann auch das inklusive, binnendifferenzierte Lernen am gemeinsamen Gegenstand realisiert werden. Auch dazu werden exemplarische Vorschläge aus der Sicht jeder Fachdidaktik vorgelegt.
Einen ausführlichen Text mit allgemeindidaktischen Planungshilfen bietet ReMi an. Darin enthalten sind Instrumente für inklusive Jahresplanungen, Halbjahresplanungen, Vierteljahresplanungen, Instrumente für inklusive Wochenplanung und Tagesplanung sowie Instrumente für inklusive Stunden- bzw.
Doppelstundenplanung im Kontext einer langfristigen Planung (Greiten 2024 https://inklusive-didaktik.de/ ). Außerdem sollen ReMi-Planungshilfen für die Gestaltung von Prüfungsstunden in inklusiven Klassen im Vorbereitungsdienst angeboten werden ( https://inklusive-didaktik.de/ ).
7. Welche Konzeption der Diagnostik und Leistungsbewertung gehört zu ReMi?
ReMi gehört in den Bereich der pädagogischen Diagnostik. Dabei geht ReMi in praxisbezogener Perspektive davon aus, dass Lehr- und Fachkräfte alltäglich miterleben, welche Handlungsweisen, Äußerungen und Produkte von Kindern und Jugendlichen gezeigt werden. Wenn Lehrende diese Mitteilungen aller Art im Sinne einer kognitiven Empathie (Reusser 2018) wahrnehmen und reflektieren, gewinnen sie unmittelbar und kontinuierlich Einblicke in die Lernausgangslagen. Die Formulierungen für kleinschrittige Lernstufen der ReMi-Materialien unterstützen das Erkennen und Benennen der erreichten Kompetenzstände. Damit können alltägliche Lernschritte transparent gemacht und nächste Lernschritte angeleitet werden.
Die ReMi-Konzeption gehört in Bereiche des Assessment for Learning und des formativen Assessment und unterscheidet sich damit von etlichen anderen Konzeptionen der pädagogischen Diagnostik. ReMi arbeitet nicht mit Tests, die den Zweck haben, Leistungsstände von Lernenden im Modell der vergleichenden Normalverteilung zu verorten (geeignete Tests können bei Bedarf zur diagnostischen Vertiefung herangezogen werden). Von ReMi unterscheiden sich auch Tests, die prognostische Aussagen treffen, um äußere Differenzierung und Zuordnungen zu bestimmten Schulformen zu begründen. Tests, die anhand möglichst weniger Indizien Vergleiche zwischen verschiedenen Klassen, Schulen, Bundesländern oder Nationen anstreben, ermöglichen Befunde auf anderen Aussageebenen als ReMi, dessen Ergebnisse sich auf im Schulalltag konkret realisierte Lernhandlungen und -prozesse beziehen. ReMi-Erkenntnisse nehmen das zu einem Zeitpunkt Erreichte und den nächsten „proximalen“ Lernschritt in den Blick; sie enthalten keine Prognosen über in der Zukunft liegende Entwicklungen und keine Analogien zu Schulnoten oder Schulformen (Geiling & Prengel 2017).
Anhand von ReMi können auch Selfassessment und Peerassessment unterstützt werden, wenn die Ich-Kann-Formulierungen genutzt werden, um Lernpässe, Pensenbücher, Logbücher oder ähnliche Instrumente zu entwickeln und den Lernenden zur Verfügung zu stellen. Eine Auswahl exemplarischer „Führerscheine“ für die Selbsteinschätzung wurde in den einzelnen ReMi-Fachdidaktiken erstellt, beispielsweise für ausgewählte Fertigkeiten im Lernfeld Arbeitslehre oder in den Naturwissenschaften. ReMi-Materialien für die Selbsteinschätzung benennen in einfacher Sprache ausschließlich das bereits erreichte Wissen oder Können und verzichten auf jede Form negativer Aussagen, negativ konnotierter Bildchen oder notenähnlicher Zeichen.
Indem ReMi kontinuierlich zu fundierten Leistungsfeststellungen beiträgt, werden sowohl Diagnose- als auch Planungssicherheit gestärkt. Voraussetzungen für kontinuierliche transparente Leistungsrückmeldungen an die Kinder und Jugendlichen sowie an die Eltern werden geschaffen. Auf dieser Basis können auch verbale Aussagen in Zeugnissen im Sinne des „summativen Assessment“ konkret und klar (und inhaltlich aussagefähiger als Schulnoten) über erreichte Kompetenzen informieren.
8. Wie ist ReMi entstanden und welche Theorien sind grundlegend?
Die Arbeit an den Hilfsmitteln für inklusiven Unterricht orientiert sich an den „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ (2017). Die zehn Leitlinien der Reckahner Reflexionen wurden in fünfjähriger Arbeit von insgesamt 60 Fachleuten aus Bildungspraxis, -wissenschaft, -politik und -verwaltung an dem bildungshistorisch bedeutsamen Ort Reckahn im Bundesland Brandenburg (Schmitt 2003) erarbeitet und werden seither in allen Bundesländern sowie im deutschsprachigen Ausland intensiv verbreitet. Seit 2020 werden als Vertiefungsprojekt der Reckahner Reflexionen am selben Ort die ReMi-Materialien entwickelt. In diesem Vorhaben wurden fachdidaktische Stufenmodelle von insgesamt mehr als 50 Beteiligten entworfen, extern kommentiert und mehrfach überarbeitet.
Das ReMi-Vorhaben vertieft zwei diagnostisch und didaktisch bedeutenden Aussagen der Reckahner Reflexionen, die Leitlinien Nr. 3 und Nr. 8. Sie lauten wie folgt:
Nr. 3: Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte und förderliche Unterstützung besprochen.
Nr. 8: Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kindern und Jugendlichen entwertend und entmutigend kommentieren.
Zahlreiche pädagogisch bedeutsame Theorieangebote aus den Bildungswissenschaften, aus der Bildungsphilosophie, aus den Sozialwissenschaften sowie der pädagogischen Psychologie sind geeignet die ReMi-Konzeption zu begründen (Prengel 2019). Sie lassen sich in einer inklusions- und anerkennungstheoretisch fundierten Aussage bündeln: Kinder und Jugendliche brauchen Anerkennung für ihre persönliche Entwicklung, kognitive Leistung und demokratische Sozialisation. Kennzeichen des ReMi-Projekts ist, dass die Theorie der Anerkennung über den Bereich des sozialen Lernens hinaus auch in den Fachdidaktiken zum Tragen kommt. Dabei wäre es missverständlich anzunehmen, dass es darum ginge, Lernleistungen zu beschönigen. ReMi Formulierungsangebote helfen vielmehr, erreichtes Wissen und Können im Sinne einer „kognitiven Empathie“ (Reusser 2018) präzise zu benennen, so dass dabei auch die Grenze sichtbar werden kann zu den Kompetenzen, die noch nicht angeeignet worden sind. Verzichtet wird darauf, bestimmte Leistungen als „schlecht“ zu charakterisieren. Es kommt vor, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie sich mit anderen vergleichen, bekümmert über ihr Lerntempo sind. Dann ist es Aufgabe der Erwachsenen und der Klassengemeinschaft, den Kummer anzuerkennen, individuelle Leistungen und Beiträge zur Gemeinschaft hervorzuheben und Trost zu spenden.
9. Wie werden mit ReMi individuelles und soziales Lernen verbunden?
Die ReMi-Materialien unterstützen inklusive unterrichtliche Formen, die sowohl Individualisierung als auch Gemeinsamkeit stärken. Wenn individuelles Lernen in inklusiven Settings gelingt, ist es eingebettet in ein gemeinschaftsbetontes Klassen- und Schulleben. Individuelle Personalisierung und kooperatives Miteinander sind keine Gegensätze. Kinder und Jugendliche werden angeleitet, sich wechselseitig in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen und gerade dadurch Zusammengehörigkeit entstehen zu lassen. Freiheit rahmende Regeln, regelmäßige Kreisgespräche, Klassenrat und Assemblys der Schulgemeinde tragen zu diesen Entwicklungen bei. Anregungen zur fächerübergreifenden menschenrechtlich-demokratischen Erziehung bietet das „Reckahner Regelbüchlein für große und kleine Kinder“ (2022).
Diese Ansätze fachlichen und sozialen Lernens bedürfen der verbindlichen gemeinsamen Planung aller verantwortlichen Erwachsenen. Das wird ermöglicht durch regelmäßige verbindliche Teamgespräche, u.a. für die kontinuierliche Pflege der pädagogisch und fachdidaktisch begründeten vorbereiteten Umgebung und für kontinuierliche Fallbesprechungen.
10. Welche Stärken und welche Schwächen weist ReMi auf?
Folgende Stichworte umreißen vermutete Stärken des ReMi-Vorhabens:
- ReMi stellt didaktisch-diagnostische Materialien zur ganzen Bandbreite heterogener Lernausgangslagen bereit und legt dabei besonderen Wert auf ausführliche Darstellungen der basalen und elementaren Zugänge.
- ReMi stellt in 14 verschiedenen Schulfächern Aussagen zu einer außerordentlichen großen Fülle an didaktisch-diagnostischen Materialien zu interdisziplinären Lernbereichen bereit.
- ReMi ist geeignet die diagnostisch-fachdidaktischen Kompetenzen von Lehr- und Fachkräften zu stärken.
- ReMi bündelt Erkenntnisse aus über vier Jahrzehnten Studien und Erfahrungen mit integrativem und inklusivem Unterricht (Rackles 2021; Deppe-Wolfinger u.a. 1990; Hattie 2024).
- Die in den Stufenmodellen enthaltenen Aussagen in Ich-Kann-Formulierungen erscheinen geeignet die Kommunikation mit den Lernenden verständlich zu gestalten.
- Die geplanten Erprobungen und Rückmeldungen aus Unterrichtserfahrungen können zum Austausch wertvoller Einsichten und zur differenzierten Reflexion beitragen.
Folgende Stichworte reflektieren Herausforderungen und vermutete Schwächen des ReMi-Vorhabens:
- Beteiligte aus den Fachdidakten ließen sich dankenswerterweise dazu herausfordern, verschiedene theoretischen Stränge innerhalb ihrer Fächer einschließlich externer Kommentierungen zu beachten und sie auf die Praxis inklusiven Unterrichts zu beziehen. Allerdings konnten in der Regel nur ausgewählte Stränge der jeweiligen Diskurse beachtet werden.
- die Kooperation zwischen 14 Fachdidaktiken hat sich als unvorhergesehen herausfordernd erwiesen, weil es für jedes Fach naheliegend ist, sich vor allem mit eigenen Besonderheiten auseinanderzusetzen und so fächerübergreifende Gemeinsamkeiten verblassen zu lassen.
- die Einleitungstexte der 14 Fachdidaktiken lassen sich stellenweise nicht so leicht lesen. Trotz mehrerer Rückmeldeschleifen könnte es teilweise nicht gut genug gelungen sein – wie ursprünglich beabsichtigt – die leichte sprachliche Verständlichkeit der Textentwürfe für fachfremd oder als Seiten- und Quereinsteiger arbeitende Lehr- und Fachkräfte sicherzustellen. Allerdings bieten wichtige Teile der ReMi-Dokumente eine gute Verständlichkeit. Das gilt vor allem für die Stufenmodelle mit dem kleinteiligen Benennen der Stufen in Ich-Kann-Formulierungen.
11. Wie kann man ReMi nutzen und erproben?
Die ReMi-Materialien werden ab Sommer 2024 nach und nach im Internet veröffentlicht. Alle interessierten Lehr- und Fachkräfte sind eingeladen die vielseitigen Materialien, die für jedes Fach vorliegen, zur Kenntnis zu nehmen, für ihre Unterrichtsgestaltung zu nutzen und zu erproben.
Für einen schnellen Einstig, empfehlen wir folgende Schritte, die durch Teamarbeit erleichtert werden:
- Auswahl des Faches, das jeweils interessiert.
- Öffnen der Datei mit den tabellarischen Stufenmodellen zu dem gewählten Fach.
- Lesen der Spalten, die die „Ich-kann-Formulierungen“ in den ausgewählten Teilbereichen des Faches abbilden – ausgehend von den basalen über die elementaren und primaren bis hin zu den sekundaren Zugängen.
- Klären welche dieser Zugänge in einer Lerngruppe passend sind, indem die Mitteilungen und Produkte der für die Kinder oder Jugendlichen immer wieder aufmerksam wahrgenommen werden.
- Lesen der Spalten mit den pädagogischen Angeboten in den ausgewählten Teilbereichen des Faches.
Für die Freiarbeit oder Lernbüroarbeit: bereitstellen von geeigneten Lernmaterialien in der vorbereiteten Umgebung einer Klasse oder einer Lerngruppe, z.B. eines Jahrgangs.
Für das Lernen am gemeinsamen Gegenstand: Vorbereitung eines Projekts oder einer Epoche zu einem Thema mit Angeboten für Binnendifferenzierung. - Immer wieder erreichte Lernschritte erkunden und mit (bei Bedarf einzelnen) Lernenden gemeinsam besprechen: „Was kann ich jetzt?“ / „Was ist mein nächstes Ziel?“ / „Was brauche ich um das Ziel zu erreichen?“. Dazu bei Bedarf schriftliche Dokumentationen nutzen, z.B. Lernpässe erstellen, ReMi-Führerscheine nutzen, Logbücher verwenden (TOOLKIT Lernbüro o.J.).
12. Wie sind Rückmeldungen erwünscht?
Lehr- und Fachkräfte, die mit ReMi in ihrer Praxis arbeiten, möchten wir auffordern, uns ihre Rückmeldungen zu geben. Dazu bitten wir alle Interessierten unseren kurzen Fragebogen zu nutzen, siehe den Link: https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdzRTYGsp4E5GCkH2_4jcG9A_7Jdf1i2C7AvL7oC8KubHFP_Q/viewform
Neben einigen Angaben zu den Rahmenbedingungen bitten wir folgende Fragen zu beantworten:
- Welche Aspekte der ReMi-Materialien finden sie gelungen und hilfreich?
- Welche Aspekte der ReMi-Materialien sollten aus Ihrer Sicht geändert werden.
- Welche Aspekte haben Sie selbst geändert, um sie gut nutzen zu können?
Wir danken allen, die ReMi erarbeitet haben und allen, die ihre Erfahrungen teilen!
Projektteam: Prof. Dr. Ute Geiling, PD Dr. Jörg Link, Prof. Dr. Anne Piezunka, Prof. Dr. Annedore Prengel
Projektträger: Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische Forschung e.V. an der Universität Potsdam
Projektförderung: Robert Bosch Stiftung, Laufzeit: 1.12.2019 – 30.5.2025
Literatur
- Deppe-Wolfinger, Helga/Prengel, Annedore/Reiser, Helmut (1990): Integrative Pädagogik in der Grundschule. Bilanz und Perspektiven der Integration behinderter Kinder in der Bundesrepublik Deutschland 1976-1988. München: DJI-Materialien
- Geiling, Ute/Prengel, Annedore (2017): Schubladisierung? Notizen zum Nachteil und Nutzen sonderpädagogischer Kategorien und fachdidaktischer Kompetenzstufen In: Kruschel, Norbert (Hg.): Menschenrechtsbasierte Bildung. Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 51-61
- Geiling, Ute./ Liebers, Katrin/Prengel, Annedore (Hrsg.) (2015): Handbuch ILEA T. Individuelle Lernentwicklungsanalyse im Übergang – ein verbindendes Instrument zwischen frühpädagogischen Bildungsdokumentationen und individuellen Lernstandsanalysen im Anfangsunterricht. Vollständig überarbeitete Auflage. Universität Halle (http://ilea-t.reha.uni-halle.de/das_handbuch_ilea_t)
- Greiten, Silvia (2024): Planungshilfen für inklusiven Unterricht – eine wissenschaftlich fundierte allgemeindidaktische Handreichung. Reckahn
- Hattie, John (2024): In kann nicht verstehen, wie man so viel Talent vergeuden kann. Interview mit John Hattie. In: Der Spiegel Nr.1/28.12.2024, S. 48-50
- Prengel, Annedore (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich
- Prengel, Annedore (2022): Schulen inklusiv gestalten. Eine Einführung in Gründe und Handlungsmöglichkeiten. Opladen: Verlag Barbara Budrich
- Prengel, Annedore (2024): Freiheit für individuelles Lernen. Eine menschenrechtliche und diagnostisch-didaktische Perspektive. In: In: Häcker, Thomas [Hrsg.]; Köpfer, Andreas [Hrsg.]; Rühlow, Daniel [Hrsg.]; Granzow, Stefanie [Hrsg.]: EIN Unterricht für Alle? Zur Planbarkeit des Gemeinsamen und Kooperativen im Inklusiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2024, S. 22-32 – URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-291076 – DOI: 10.25656/01:29107; 10.35468/6078-02
- Rackles, Mark (2021): Inklusive Bildung in Deutschland. Beharrungskräfte der Inklusion und notwendige Transformationsimpulse. Policy Papers 6/2021, Berlin: Mark Rackles Consulting. (26.07.2021)
- Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen. Rochow-Akademie: Reckahn 2017. https://paedagogische-beziehungen.eu (1.10.2024)
- Reusser, K. (2018). »Kognitive Empathie« als Prozessmerkmal und berufsethische Qualität guten Unterrichts. Perspektiven und Anwendungen. In: H. R. Schärer & M. Zutavern (Hrsg.), Das professionelle Ethos von Lehrerinnen- und Lehrern (S. 73-90). Münster: Waxmann.
- Schmitt, Hanno (2003): Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung – die Philanthropen: Johann Bernhard Basedow, Friedrich Eberhard von Rochow, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann. In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Klassiker der Pädagogik, Band 1: Von Erasmus bis Helene Lange. München: C.H. Beck, S. 119-143
- TOOLKIT Lernbüro (o.J.). Berlin: Schule im Aufbruch. https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/unterrichtsentwicklung/Initiativprogramm_BB/TK_Lernbuero.pdf (1.10.2024)